Der Autor hat sich auf eine Reise ins Ungewisse gewagt – sie haben ihn in ferne Länder geführt. Die Schätze, die er dabei entdeckt hat, sind nicht mit Gold aufzuwiegen.die unerwartete Parallele zu Paulo Coelho’s «Der Alchimist».
von Roland Hänggi
Santiago’s wiederkehrender Traum: Erneut darf ich mich wieder bewerben, den Lebenslauf zum x‑ten Mal überarbeiten. Aber zum ersten Mal erkenne ich so etwas wie ein Muster. Doch das Zeichen ist sofort wieder vergessen – als Leiter Finanzen in einem mittelgrossen Betrieb fühle ich mich dem Karrierehimmel schon ziemlich nah. Doch es ist mir kein Erfolg beschieden. Obwohl der Fall von der Karriereleiter schmerzt, will ich die Zeichen nicht wahrhaben. Wozu auch: Kurz darauf ergreife ich die einmalige Chance der Selbstständigkeit. Mein Herzfeuer lodert und ich bin fast Tag und Nacht am Arbeiten. Ein unbeschreibliches Gefühl mit der Kraft aus dem Herzen, all meine Kompetenzen anwenden zu können – ich bin im siebten Himmel. Diese Selbstständigkeit dauert zehn Jahre. Dann ist auch dieses Schiff gestrandet. Ausgelaugt, die Batterien leer und die private Beziehung gescheitert. Es ist, wie es ist – einmal mehr stehe ich auf und setze meine Reise fort.
Santiago ist mutig genug, seinem Traum zu folgen: 2009 kam aus dem Nichts der Wunsch auf, Ägypten mit seinen archäologischen Zonen zu besuchen. Ich wollte spirituelle Erfahrungen sammeln. Die Wunschliste verschwindet mangels fehlender finanzieller Ressourcen in einer Schublade. Zwei Jahre später besuche ich die Präsentation eines mexikanischen Magiers – Jaime Delgado Orea. Am Ende erfahre ich, dass Delgado Orea drei Monate später eine spirituelle Reise nach Ägypten durchführen wird. Sämtliche zeitlichen und finanziellen Hindernisse schwinden, und ich fahre mit. Die Besuche in Assuan, Cairo, Alexandria, Luxor, der weissen Wüste und im Tal der Könige eröffnen mir eine völlig neue Welt. Die spirituelle Dimension der Kontakte und Begegnungen mit Energiefeldern und Schwingungen krempeln mich um, ohne dass ich es vorerst bemerke. Nach der Rückkehr entsteht ein E‑Mail-Verkehr mit einer Reiseteilnehmerin. Dies führt mich weitere drei Monate später nach Mexiko, obwohl ich kaum Geld habe, kein Abenteurer und schon gar nicht der Typ bin, der für ein paar Tage so weit reist. Eine dreitägige Rundreise durch Chiapas raubt mir fast den Atem. Von der Schönheit der Natur berauscht, kehre ich nach Hause zurück und verstehe die Welt nicht mehr. Das Zeichen ist unübersehbar und bedeutet – auswandern.
Santiago’s Aufbruch: Ein unbeschreiblich tiefes Vertrauen stellt sich ein und lässt mich den Loslös-Prozess des Verkaufens, Verschenkens oder Entsorgens aller materiellen Dinge mit samt deren Erinnerungen mit Leichtigkeit innerhalb von sechs Monaten aushalten. Selbst mein Körper hat sich gereinigt und einiges an Gift ausgeschieden. Mit einem Koffer und einem Rucksack erreiche ich Cuernavaca, die Stadt des ewigen Frühlings. Hier heisst es erst einmal, sich während drei Monaten der Sprache mächtig zu werden und meinen reservierten Platz in der Sprachschule CETLALIC einzunehmen. Martha, die Ehefrau des Schulleiters und Co-Leiterin, erzählt begeistert von einem mystischen Ort in den Bergen namens Real de Catorce. Er sollte mein erstes Reiseziel werden. Das Gebiet, in welchem der Ort liegt, ist bekannt unter dem Begriff Wirikuta und zählt zu den heiligsten Gebieten einer indigenen Kultur. Alljährlich beenden hier die Huichol ihre Pilgerreise, nachdem sie rund 500 Kilometer aus ihrem Wohngebiet, der Sierra Nayarita und Tepic, bis hierher zurückgelegt haben. Ich lerne einen Schamanen kennen, doch mehr als einzelne Gespräche entwickeln sich nicht. Mein Wunsch einer Annäherung, um gegebenenfalls an einem Ritual mit Peyote – einem Kaktus mit halluzinogenen Wirkstoffen – teilnehmen zu können, erfüllt sich nicht. Auf meinen Bergwanderungen zu verschiedenen heiligen Plätzen erlebe ich immer wieder tief berührende Begegnungen. Ich teile mit Schafhirten Brot und Früchte. Ein Schweizer Ehepaar, welches in Real de Catorce ein Cafe betreibt und eine Schulklasse leitet, rät mir, in die Wüste nach Quatro Cienegas zu reisen.
Das «magische Dorf», so die offizielle Bezeichnung, fesselt mich. Hier fühlt sich alles etwas anders an – ungetrübt und rein. Da ist der glasklare Fluss, welcher durch die Wüste fliesst. Nicht nur sein Wasser, auch seine Energie reinigt meinen Körper bis in die Knochen und meinen Verstand. Die durch den Wind geformten Dünen von Yeso stehen da, wie von der Zeit vergessen. Die herzlichen, persönlichen Kontakte zu den Bewohnern verändern meine schweizerisch geprägten engen Ansichten für immer. Ich komme fast nicht mehr weg. Dennoch zieht es mich weiter. Nach ein paar Stunden des Ausharrens in einem Busterminal realisiere ich, dass mein Blick immer wieder von einer Destination auf einer Anzeigetafel magisch angezogen wird –Mazatlan.
In der Stille der Wüste: Im Gegensatz zu Santiago finde ich in der Wüste noch nicht zu mir selbst. Zuerst erreiche ich nach ein paar Zwischenstationen Mazatlan. Während vier Wochen beginne ich, mich mit dem Element Wasser anzufreunden, und erfahre gleichzeitig, wie Wasser mich durchlässig werden lässt. Von hier werde ich zu meinem Ort der Erkenntnis geführt – Tepic. In der Hauptstadt des Bundesstaates Nayarit finde ich den idealen Platz, um mich während zehn Monaten in einen tiefen Prozess einzulassen. Ich ziehe mich zurück und werde zum Einsiedler. Die Dimension Zeit hat sich sowieso schon kurz nach meiner Abreise aus der Schweiz aufgelöst. Meditationen, Rituale, ein Aufgabenbuch, Astrologie, Maya-Überlieferungen, tagelanges Beobachten der Flora und Fauna im nebenan liegenden Park sowie des Himmels bei Tag und bei Nacht bestimmen den Lebensrhythmus. Diese und weitere Hilfsmittel und Werkzeuge unterstützen mich beim Auffinden, Ausleuchten und Aufarbeiten meiner Schattenseiten. Ich praktiziere eine tiefgreifende Seelenreinigung. Dank dem Beobachten der Natur erkenne ich meinen Körper als den viel zitierten Mikrokosmos: Es ist die sprichwörtliche Umkehr vom Aussen ins Innen, in die spirituelle Dimension. Die Anzahl der Sterne werden in unseren Billiarden von Synapsen im Gehirn gespiegelt; unser Skelett wächst ähnlich wie jeder Baum mit Stamm und Ästen; unsere Haut erneuert sich, so wie das Laub und die verletzte Haut vernarbt wie die Baumrinde nach einer zugefügten Wunde. Die fast täglich praktizierten Yoga-Übungen helfen mir immer wieder, im Hier und Jetzt zu bleiben. Der Prozess zeigt in der Tiefe meines Bewusstseins nicht nur meine Aufgabe in der Ursprungsfamilie auf, sondern deutet mir in der Folge auch meine Lebensaufgabe an. Die mentale Klarheit, mit welcher ich nun unterwegs bin, hat meinen Blick geschärft, vergleichbar mit dem Hubble-Teleskop, das den Blick in die Tiefe des Universums freigibt. Ich fühle mich komplett aufgeräumt. Die Klarheit manifestiert sich unter anderem im Innern durch das Erkennen neuer Fähigkeiten und im Aussen durch ein verändertes Verantwortungsbewusstsein. Selbst bei Gedanken und Gefühlen werden das Ausmass und die Grenze meiner Verantwortung erkennbar. Und auch das Unterscheiden zwischen Ursache und Symptom ist mit einem Mal so einfach geworden, wie das Unterscheiden zwischen Tag und Nacht.
Santiagos Abreise: Bei meiner Abreise aus Tepic weiss ich noch nicht, welch weitere Abenteuer auf mich warten. Eine Rückkehr in die Schweiz ist zu dieser Zeit noch kein Thema; nicht einmal ein Besuch lockt mich. Mit Sicherheit weiss ich nur dies: Ich werde meine Reise fortsetzen. Die Schätze, welche ich bis jetzt entdeckt habe, sind wahrlich nicht mit Gold aufzuwiegen. Allein schon das Erkennen meiner «wahren» Persönlichkeit, ohne die angelernten oder übergestülpten Verhaltensmuster und ohne die familiäre Prägung, kann ich nicht in Worte fassen. Das Wissen, was meine Lebensaufgabe ist, welchen Weg ich dadurch einzuschlagen habe und welches Ziel ich bis ans Lebensende verfolgen möchte, hat für mich eine noch nicht greifbare Dimension bekommen. Die Wichtigste aller Erfahrungen zeigt sich mir im neu gefundenen Verständnis der Vaterrolle: Die Liebe zu meinen beiden Kindern überstrahlt alles. Die beiden motivieren mich, dranzubleiben am Prozess, so schwierig er auch sein mag, und meinen Weg mit allen Konsequenzen weiterzuverfolgen.
Roland Hänggi
Weg-Weiser & Visionär
Stägmatt 28
CH–3302 Moosseedorf
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