Es war ein­mal in alter Zeit eine klei­ne, ver­hut­zel­te Frau mit güti­gem Gesicht, fei­nem, grauem
Haar, ein­fach gewan­det und mit schwe­ren Schu­hen an den Füs­sen. Sie wohn­te allein in einem Sta­fel zuhin­terst unter den Flü­hen im Büt­schi, dort wo sich Füch­se und Hasen Gute Nacht sagen. Allein wohn­te sie, aber ein­sam war sie nicht. Gegen­über den Men­schen scheu und sogar unnah­bar war das lie­be Kräu­ter­lisi, aber mit den wil­den Tie­ren im Tal kam es gut aus, es leb­te wie sie und teil­te sei­ne kar­ge Nah­rung mit ihnen. Lisis beson­de­re Freun­de aber waren die Vögel. Kei­ner weiss es so genau, doch die Alten erzäh­len, dass stets ein gros­ser, schwar­zer Rabe (oder war es ein Adler?) sei­ne Krei­se über Lisis Kopf zog, wenn es auf der ein­sa­men Alp unter­wegs war und sei­ne Kräu­ter sam­mel­te. Ja, die Kräu­ter, die waren das Leben und die Lei­den­schaft des Hut­zel­weib­leins. Kaum ein Geb­res­ten, gegen das es kein pro­ba­tes Mit­tel­chen wuss­te, kein Weh­weh­chen, das es nicht mit sei­nem wun­der­tä­ti­gen Grün­zeug lin­dern und hei­len konn­te. Sogar der alte Adel­bod­ner Dok­tor schwor auf die Auf­güs­se und Tink­tu­ren des wei­sen Lisis. Es kam nicht oft ins Dorf, aber immer hat­te es sein Kräu­ter­körb­lein für den Dok­tor dabei. Nun, auch das gute Lisi kam ins Alter. Weni­ger oft ging es sei­nen Kräut­lein nach, aber immer war der stol­ze schwar­ze Vogel sein Beglei­ter und Beschüt­zer. Berg­wan­de­rer beob­ach­te­ten die zwei Unzer­trenn­li­chen immer sel­te­ner, und doch wur­de im Volks­mund aus dem lie­ben Kräu­ter­lisi das Vogel­li­si. Lisi ging wohl gegen die Neun­zig, als es ihm an einem föh­ni­gen Okto­ber­tag unter dem Ammer­ten­grat schwarz wur­de vor den Augen, es stol­per­te, fiel, und stürz­te wie ein Stein die jähe Fluh hin­un­ter. Der schwar­ze Vogel sah es natür­lich, er sah, wie Lisi fiel und er konn­te es nicht ret­ten. Vogel­li­si konn­te eben nicht flie­gen wie sein schwar­zer Freund. Des stol­zen Raben Herz brach mit­ten im Flu­ge – neben dem leb­lo­sen Weib­lein such­te und fand der präch­ti­ge Vogel sei­nen Tod. Ohne das Lisi woll­te und konn­te er nicht wei­ter­le­ben. Das ist die Geschich­te vom Vogel­li­si. Kein Wun­der, dass sein Name im bekann­ten Lied über Adel­bo­den wei­ter­lebt. Mit dem Welt­ruf des Feri­en­or­tes hat auch das Vogel­li­si die Unsterb­lich­keit erlangt.

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